Schriebt man auf Papier, dann ist man gezwungen, seiner Kreativität Grenzen zu setzen. (…) Man ballt seine Kreativität, um sie auf ein Minimum von Papier mit einem Minimum an Schriftzeichen aufzutragen.
Schreibt man hingegen ins elektromagnetische Feld, dann wird der kreative Text zwar auch Zeilen bilden, aber diese Zeilen werden nicht meht eindeutig verlaufen. Sie sind “weich”, plastische, manipulierbar geworden. Man kann sie zum Beispiel aufbrechen, Fenster in ihr öffnen, oder man kann sie rekursiv machen. Die in sie eiingetragenen Schlusspunkte können ebensogut als Ausgangspunkte angesehen werden. Ein derart geschriebene Text wird “dialogisch” sein, und zwar zuerst einmal im Sinn eines Zwiegesprächs, das aus dem Innern des Schreibens ins Feld hinausprojiziert wird. Der Text ist nicht mehr, wie auf dem Papier, das Resultat eines kreatives Prozesses, sondern er ist selber dieser Prozess, er ist selbst ein Prozessieren von Informationen zu neuen Informationen.
Vilem Flusser, ‘Hinweg vom Papier’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 63 (1987)
Im Unterschied zu Algorithmen und Bildern handelt es sich nicht um Informationen, die zuerst empfangen und dann analysiert werden müssen, sondern um Informationen, die analysiert werden müssen, um überhaupt empfangen werden zu können. Das lesen von Buchstaben erfordert eine grössere Anstrengung als das lesen von Ideogrammen, es ist unbequemer. Dafür macht es ein unkritisches empfangen von Informationen unmöglich.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 57
Beim Lesen und Schreiben nehmen wir Abstand von der Sprache: sie ist nicht mehr ein Medium, durch welches hindurch wir etwas ausdrücken, sondern sie wird zum einem Objekt, auf das wir Buchstaben drücken. Diese Distanz zur Sprache, dank welcher sie zu einem Gegenstand wird, charakterisiert das Schreiben.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 55
Für die Schriftkundigen ist Theorie ein kontemplatives Lesen unveränderlichen Formen. Jetzt wird sie zu Tätigkeit: sie hat Modelle für die Praxis vorzuschlagen und diese Modelle fortschreitend anhand der Praxis zu verbessern.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 49
Dank der Erfindung des Alphabets ist Geschichte im eigentlichen Sinn überhaupt erst möglich geworden, und zwar nicht, weil das Alphabet die Geschehnisse festhält, sondern weil vorher gar keine Geschehnisse, sondern nur Ereignisse denkbar waren. Laut diese Erklärung verfügen nur jene, die des Alphabets mächtig sind, über ein historisches Bewusstsein.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 44
Das Modell dabei ist die Furche: Die schreibende Hand gräbt die Furche und sät den Samen, und das lesende Auge klaubt das gereifte Getreide. Daher heisst “schreiben” (scribere, graphein) ursprunglich “ritzen, graben” und “lesen” (legere, legein) unrsprünglich “klauben”. Das bedeutet, dass das schreibende und lesende Denken gezwungen werden, linear, prozessuell vorzugehen.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 44
Das heisst, flexionierende Sprachen verschlüsseln die Informationen zu Prozessen, agglutinierende zu Gestalten, isolierende zu Szenen. Diese Unterscheidung ist nur sehr grob, weil Sprachen offene Systeme sind und ineinandergreifen.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 44.
Die in Luft übertragenen Informationen können “orale” Kultur, die in harte Gegenstande übertragenenen “materielle” Kultur genannt werden. Es handelt sich um zwei verschiedenen Gedächtnisstützen. Die Luft hat den Vorteil, dem Aufdrücken von Informationen kaum Widerstand zu leisten, dafür den Nachteil, Geräuschen offenzustehen und daher die ihr aufgedrückten Informationen schnell zu verlieren. (…) Die orale Kultur ist artikulierter als die materielle, aber sie ist flüchtig, und die materielle ist dauerhafter als die orale, aber weniger geschmeidig.
Vilem Flusser, ‘Alphanumerische Gesellschaft’, in Medienkultur, Fischer, Frankfurt/Main, 1997, p. 43