Flusser: Das Abstraktionsspiel
‘(…) “Phänomenologie der Kulturgeschichte”: Der Willendorfer tritt aus der ihn angehenden Welt heraus, streckt ihr die Hand entgegen, hält darin Körper fest und verändert dann die derart festgehaltenen, stillstehenden, “verstandenen” Körper: Er erzeugt das zeitlose Universum der Skulpturen. Die Leute in Lascaux treten aus diesem driedimensionalen Universum heraus, schauen es sich an, erblicken die Oberflächen der “verstandenen” Körper, stellen sich vor, wie sie die erblickten Oberflächen zueinander verhalten un verändern dann die imaginierten Flächen: Sie erzeugen das tiefenlose Universum der Bilder. Die Leute in Ungarit treten aus diesem zweidimensionalen Unversums heraus, greifen mit den Fingern in die Flächen ein, um die Bildelemente zu “begreifen” reißen sie dann heraus, um sie in Reihen zu ordnen, sie zahlbar zu machen, um sie zu erzählen, besprechen und dann verändern zu können: Sie erzeugen das flächenlose Universum der Texte. Gegenwärtig treten die Leute aus diesem eindimensionalen Unversum heraus, bestasten die Linien mit den Fingerspitzen, lösen die Begriffe aus ihren reihenfolge und spielen mit ihnen, um herauszufinden, was man aus den sich anbietenden Möglichkeiten kombinieren können: Sie erzeugen das dimensionslose Universum der Quanten.’
‘Zuerst hat der Mensch in der ihn angehenden Welt gehandelt, dann hat er geschaut, um zu handeln, dann hat er gefingert und hingehört, um zu sehen und dann handeln zu können, und gegenwärtig tastet er ab, um überhaupt etwas befingern und hören zu können, um es nachher vielleicht anschauen und behandeln zu können.’
Vilém Flusser, ‘Das Abstraktionsspiel’ in Schriften, Band I, Lob der Oberflächlichkeit, für eine Phänomenologie der Medien, Bollmann, Mannheim, 1995, p. 19.