Flusser: Die Schrift II

‘Gott hat, dem Mythos zufolge, Sein Ebenbild zerrissen (…), und er hat dadurch uns geschrieben. So, als Seine Inschriften, hat Er uns in die Welt geschickt, uns aus dem Paradies in die Welt vertrieben, uns gebrannt und gehärtet — damit wir die Welt (und uns selbst), beschreiben, erklären, begreifen und beherrschen mögen. So wurden wir erschaffen, zu diesem Zweck sind wir geschrieben worden, dazu sind wir ausgeschickt worden, das ist unser Schicksal. Das arabische Wort “maqtub” bedeutet zugleich “Schicksal” und “Inschrift”. Was werden wir aufgeben, wenn wir die Schriftcodes durch andere, leistungsfähigere ersetzen?’ p. 18/19

‘Es besteht ein komplexes Feedback zwischen der Technik und dem sie verwendenden Menschen. Ein sich änderndes Bewußtsein ruft nach veränderter Technik, und eine veränderte Technik verändert das Bewußtsein.’ p. 20

‘Der Stilus ist strukturell einfacher als und funktionell komplizierter als der Pinsel. Das ist ein Merkmal des Fortschritts: Alles wird strukturell komplexer, um funktionell einfacher zu werden.’ p. 20

‘Für das Zusehen, für die Beschaulichkeit sind Schriften nicht die geeigneten Codes. Bilder sind dafür besser geeignet. Wir sind eben daran, das Aufschreiben (das Schreiben überhaupt) den Apparaten zu überlassen und uns auf Bildermachen und Bilderbetrachten zu konzentrieren. Wir sind eben daran, ins “Universum der technischen Bilder” zu übersiedeln, um uns von dort aus auf die von Apparaten automatisch geschriebene Geschichte hinunterzuschauen.’ p. 24

‘Das Schreiben ist nicht ohne weiteres überwindbar. Erstens weil sich die Bilder, die wir kontemplieren, von der Geschichte (die Apparate) nähren. Zweitens weil diese Bilder die Geschichte (die Apparate) programmieren. Und drittens, weil die Apparate nicht so schreiben, wie wir geschrieben haben” Sie benutzen andere Codes. Die von Apparaten geschriebene (und gemachte) Geschichte ist eine andere Geschichte. Sie ist keine Geschichte mehr im buchstäblichen Sinn des Wortes.’ p. 24

‘Also kodifizieren Buchstaben auditive Wahrnehmungen, während Zahlen optische Wahrnehmungen kodifizieren. Buchstaben gehören ins Gebiet der Musik, Zahlen in jenes der darstellenden Künste.’ p. 27

‘Ideogramme sind Zeichen für “Ideen”, für mit dem inneren Auge ersehene Bilder. Das festhalten von Bildern aber soll beim Schreiben gerade vermieden werden. Schreiben soll Bilder erklären, wegerklären. Das bildliche, vorstellende, imaginäre Denken soll einem Begrifflichen, diskursiven, kritischen weichen. Man schreibt alphabetisch und nicht ideografisch, um ikonoklastisch denken zu können.’ p. 34

‘Das Alphabet schreibt die gesprochene Sprache nicht nieder, es schreibt sie auf. Es erhebt die Sprache und nimmt sie in seinen Griff, um sie nach seinen Regeln zu ordnen. Auf diese Weise regelt und ordnet das Alphabet auch das von der Sprache Gemeinte: das Denken.’ p. 36

‘Der Versuch, dem hinter der Erfindung des Alphabets verborgenen Motiv nachzuspüren, hat scheinbar zwei verschiedene Antworten erhalten. Die eine besagt, die Absicht der Erfinder sei ikonoklastisch gewesen: Nicht Bilder (auch nicht Ideogramme), sondern Laute seien beim Schreiben zu bezeichnen, damit sich das Bewußtsein vom bildgebundenen magischen Denken befreie. Die andere Antwort besagt, die Absicht der Erfinder des Alphabets sei das Aufstellen eines linearen Diskurs gewesen: Beim Schreiben sollen Laute bezeichnet werden, damit ein folgerichtiges Sprechen statt dem mythischen, kreisenden Raunen in die Wege geleitet werde. Betrachtet man jedoch diese beiden Antworten näher, dann stellt man fest, daß beide dasselbe aussagen.’ p. 38

‘Texte sind Halbfabrikate. Ihre Zeilen eilen einem Schlußpunkt zu, aber über diesen hinaus einem Leser entgegen, von dem sie hoffen, daß er sie vollende. (…) (A)llen Texte (ist) gemein, daß sie ausgestreckte Arme sind, die hoffnungsvoll oder verzweifelt versuchen von einem anderen aufgegriffen zu werden. Das ist die Stimmung des Geste des Schreibens.’ p. 41/42

‘An wen aber schreiben diese Leute [de programmeerders]? (…) sie schreiben vielmehr an und für Apparate.’ p. 56

‘Es [= die Denkart des Programmierens] ist eine profane, wertfreie Denkart. Sie ist nicht mehr mit historischen, politischen, ethischen Kategorien zu fassen. Andere, kybernetische, komputierende, funktionelle Kategorien sind auf sie anzuwenden. Deshalb ist das Programmieren nicht eigentlich ein Schreiben zu nennen. Es ist eine Geste, in welcher eine andere Denkart zum Ausdruck kommt als beim Schreiben.’ p. 59

‘Alle Vorschriften werden programmierbar, aber es werden doch nicht nur Vorschriften geschrieben. Die Literatur besteht doch nicht nur aus lauter Geboten, Gesetzen und Gebrauchsanweisungen. Und diese andere Fäden im Gewebe der Literatur sind doch wohl nicht programmierbar. (…) Auch dieser (reaktionäre) Einwand erweist sich als Irrtum. (…) Wir verfügen gegenwärtig über Methoden, mit denen wir Erkenntnis- und Erlebnismodelle auf Verhaltensmodelle reduzieren können, indem wir alle Propositionen auf “Wenn/Dann”-Propositionen zurückführen. Der Propositionskalkül gestattet, alle wie immer geartete Aussagen in Funktionen zu übersetzen. All Literatur wird programmierbar.’ p. 61

‘Der alphabetische Dichter manipuliert Worte und Sprachregeln mittels Buchstaben, um daraus ein Erlebnismodell für andere herzustellen. Dabei ist er der Meinung, ein eigenes konkretes Erlebnis (Gefühl, Gedanken, Wunsch) in die Sprache hineingezwungen und damit das Erlebnis und die durch das Erlebnis veränderte Sprache für andere zugänglich gemacht zu haben. Der neue mit Apparate versehene und sie digital speisende Dichter kann nicht so naiv sein. Der weiß daß er sein Erlebnis zu kalkulieren hat, in Erlebnisatome zu zerlegen, um es digital programmieren zu können. Und bei dieser Kalkulation muß er feststellen, wie sehr sein Erlebnis bereits von anderen vormodelliert war. Er erkennt sich nicht mehr als “Autor”, sonders als Permutator. Auch die Sprache die er manipuliert, erscheint ihm nicht mehr als ein sich in seinem Inneren anhäufendes Rohmaterial, sondern als ein komplexes System, das zu ihm dringt, um durch ihn permutiert zu werden. Sein Einstellung zum Gedicht ist nicht mehr die des inspirierten und intuitiven Dichters, sondern die des Informators. Er stützt sich auf Theorien und dichtet nicht mehr empirisch.’ p. 73/74

‘Man schreibt aus zwei Grundmotiven: aus einem privaten Motiv (seine Gedanken ordnen) und einem politischen (andere informieren). Gegenwärtig ist man aufgeklärt genug um sich über diese Motive Rechenschaft ablegen zu können. Das Ordnen der Gedanken ist ein mechanischer Vorgang (…) und kann künstlichen Intelligenzen überlassen werden. Die Leser an die man schreibt, sind Kommentatoren (die das Geschriebene zerreden) oder Befolger (die sich wie Objekten ihm unterwerfen) oder Kritiker (die ihn zerfetzen) (…). p. 89

‘Ein neues Bewußtsein ist im Enstehen. Es hat um sich auszudrücken und sich mitzuteilen, nicht alphanumerische Codes entwickelt, und es hat die Geste des Schreibens als ein Absurder Akt durchblickt, von dem es sich zu befreien gilt.’ p. 91

‘Aber wir sind eben Bücherwürmer, und wir fressen wovon wir aufgefressen werden. Wir leben von Büchern für Bücher.’ p. 92

‘Jeder Text aber kann als Brief gelesen werden, nämlich nicht kritisch, sondern mit dem Versuch, den Absender anzuerkennen.’ p. 103

‘Das angebotene Zeug [= schrijfwaren] ist großartiger als die zu schreibenden Notizen denen es vorgeblich dient: wieviel mehr Intelligenz steckt in solchem Zeug als in dem dank ihm erzeugten Geschreibsel. Die Mittel sind derart gescheit geworden, daß sich bei ihnen aller Zweck erübrigt. Sie werden Selbstzweck. Selbstzweckwerden aller Mittel und Ãœberflüssigkeit aller Zwecke meint “Medienkultur”.’ p. 127

‘Aber die Stakkato-Struktur dieser Schreibart [van scripts, voor het programmeren] (..) auch sie ist nur ein Vorwand: ein Zugeständnis an die neuen, digitalen Codes. Das Ideal der Geste des Schreibens ist der Legato, jenes Binden von distinkten Elemente zu Zeilen. Von Skripten wird dieses Ideal als unerreichbar aufgegeben.’ p. 132

‘Wer Skripte schreibt, hat sich der Bildkultur mit Haut und Haar übergeben. Und die ist, vom Standpunkt der Schriftkultur, der Teufel.’ p. 133

‘Mindestens zwei Dinge sind für dieses Umlernen des Denkens charakteristisch. Erstens daß wir nur Bilder und nichts als Bilder denken, denn alles was wir Wahrnehmungen nennen (…) sind nichts als im Gehirn komputierte Bilder. Zweitens, daß Denken kein kontinuierlicher, diskursiver Vorgang ist: Das Denken “quantelt”.’ p. 139

‘Wir werden die neuen Codes im Gedächtnis nicht über dem Alphabet lagern können, weil diese Codes das Alphabet nicht dulden können. Sie können dem Alphabet gegenüber unduldsam imperialistisch. Sie können nicht dulden, daß hinter ihrem Rücken ein Denken weiterläuft, das darauf aus ist Bilder zu kritisieren.’ p. 142

‘Die alte Kritik, diese Auseinanderbrechen von Solidem, würde sich in gähnenden Intervallen, im Nichts verlieren. (…) Eine ganz andere kritische Methode ist hier vonnötten, und zwar jene die mit dem Begriff “Systemanalyse” nur annäherend benannt wird.’ p. 143

‘Wir sind demnach den neuen Bilder nicht unkritisch ausgeliefert, im Gegenteil: Wir werden Methoden ausarbeiten, um sie zu analysieren und re-synthetisieren zu können.’ p. 143

‘Wir werden lernen müssen, digital zu schreiben, falls eine derartige Notiermethode überhaupt noch ein Schreiben zu nennen ist.’ p. 143

‘Der künftige “Leser” sitzt vor dem Schirm, um die gelagerten Informationen abzurufen. Es geht nicht mehr um ein passives Auflesen (Aufklauben) von Informationsbrocken entlang einer vorgeschriebene Zeile. Es geht vielmehr um ein aktives Knüpfen von Querverbindungen zwischen den verfügbaren Informationselementen. Es ist der “Leser” selbst, den aus den gelagerten Informationselementen die von ihm beabsichtigte überhaupt erst herstellt.’ p. 146

‘Das Geschichtsbewußtsein — dieses Bewußtsein, in einen dramatischen und unwiderruflichen Zeitstrom getaucht zu sein — ist im künftigen “Leser” ausgelöscht. Er steht darüber, um seine eigene Zeitströme zu knüpfen. Er liest nicht eine Zeile entlang, sondern er spinnt seine eigene Netze.’ p. 147

‘Gegenwärtig überflutet das klare Licht des kritische Denkens die ganze Gegend von allen Seiten. Auch der einzelne Mensch ist bis in sein Innerstes von diesen kalten Röntgenstrahlen durchleuchtet. Dies bedeutet, daß nichts mehr übrig geblieben ist, das noch aufgeklärt werden könnte. Die Strahlen des kritischen Denkens finden nichts mehr, wogegen sie sich brechen könnten. Sie laufen ins Leere. Damit hat das alphabetische Schreiben (und Denken) sein ursprüngliches Ziel erreicht (und übertroffen). Man müßte um weiter denken zu können, zu neuen Codes greifen.’ p. 151/152

Vilém Flusser, Die Schrift, hat Schreiben Zukunft?, Edition Flusser, European Photography, 2002, (1987).

de,quotations,research,ubiscribe,writing | April 24, 2006 | 12:01 | Comments Off on Flusser: Die Schrift II |

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